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Zum 50sten Gedenktag der Befreiung von Auschwitz gab es zahlreiche Veranstaltungen, deren Leitmotiv war: Lehre aus Auschwitz ziehen, so dass es nie wieder passieren kann. Ich frage mich also: Was habe ich davon gelernt?

Bezogen auf alles, was ich gesehen, gehoert und gelesen habe erscheint mir die Antwort eindeutig: nichts. Ich habe Menschen weinen gehoert und ich habe mitgeweint; ich habe Menschen trauern gesehen und ich habe mitgetrauert; mir wurden Grausamkeiten genau beschrieben und ich war empoert und entsetzt. Gelernt habe ich aber nichts.

Erkenntnis besteht in der Tat weder aus Emotionen, noch aus spezifischen, nicht in logischen Strukturen eingebundenen Ereignissen. Ich weiss immer noch nicht, unter welchen Bedingungen man neue Auschwitze errichten, oder vermeiden kann. Ich weiss ueberhaupt nicht, was ich unter dem "zuvermeidenden-Auschwitz" verstehen soll. Sicher nicht das spezifische Kz-Auschwitz, an wessen Ort und Stelle kein neues Nazi-Kz zu befuerchten ist.

Wenn ich ueber Saeugetiere was sinnvolles sagen will, fange ich an mich mit der zoologischen Definition, dem "Saeugetier-Prinzip" vertraut zu machen. Ich bin nicht gezwungen diese Definition zu akzeptieren und darf sie in Frage ziehen. Eins kann ich aber nicht: etwas Sinnvolles ueber einen undefinierten Begriff sagen. Zur Zeit als es noch keine Definition gab, musste jemand, der ueber Saeugetiere reden wollte, sich seine eigene Definition beschaffen.

Da es nun keine "Auschwitz-logie" und zu meinem besten Wissen kein allgemeines Auschwitz-Prinzip gibt, moechte ich an dieser Stelle eines vorschlagen:

AUSCHWITZ BERUHT AUF ABSOLUTEN AUSSAGEN IM MENSCHLICHEN BEREICH, naemlich auf der Sinnlosigkeit dieser Aussagen, die alle willkuerlichen Interpretationen zulaesst.

Im physikalischen Bereich haben nur relative Aussagen einen Sinn. Wir sagen zwar, dass ein Stein schwer ist, implizieren aber damit eine Relation zur Erde: es ist uns klar, dass der Stein auf dem Mond viel leichter waere und dass im Weltraum sein Gewicht ueberhaupt verschwinden wuerde.

Im menschlichen Bereich sind die absoluten Aussagen genauso sinnlos. Nur wird diese Tatsache von keiner, mit der Physik vergleichbaren Autoritaet unterstuetzt. Jemand, der eine Theorie vertraete, die auf physikalisch absoluten Aussagen beruhte, wuerde sich einfach laecherlich machen. Tut er das im menschlichen Bereich, haette er alle Chancen eine Ideologie, eine Religion oder ein neues Reich zu gruenden. Eine Ideologie, eine Religion oder ein Reich, die auf dem Auschwitz-Prinzip beruhten, deren Tugenden unweigerlich auf Auschwitz verwiesen.

Ich bin mir dessen bewusst, das ich hier eine ganze Weltanschauung - einen "Relativen Humanismus" - erwaehne, ohne an dieser Stelle seine Thesen begruenden zu koennen. Ich wuerde gerne im Rahmen eines eventuellen Gedankenaustausches die Begruendung zur Verfuegung stellen.

Hier werde ich mich auf ein Beispiel begrenzen, das den Unsinn des absoluten Klassifikations-Kriteriums "Jude" und der absoluten Aussage "Dieser Mensch ist Jude" erlaeutert.

Rassistich gesehen ist es ein klarer Unsinn, weil man bis jetzt kein "juedisches" Gen beobachtet hat.

Mann kann sicher juedische Kultur haben, jiddisch, hebreisch oder ladino sprechen und jiddische Witze erzaehlen. Kultur ist aber zweifellos ein relativer Begriff. Sie war zwar von den Nazis als Hilfsmittel benutzt, aber nie als wesentliches, absolutes, Diskriminationskriterium. Ein grosser Teil der im Auschwitz ermordeten Juden hatten mit der juedischen Kultur nichts zu tun; einige waren katolische Priester und einige haben zuerst von den Nazis kennengelernt, dass sie Juden waren.

Selbst das Kriterium der juedischen Religion ergibt ein Unsinn. Nach dem juedischen Gesetz ist Jude, wer eine juedische Mutter hat oder von einem juedischen Rabiner bekehrt wurde. Bevor ich aber sicher sein kann, dass meine Mutter Juedin ist, muss ich beweisen, dass sie selbst eine juedische Mutter hatte oder bekehrt wurde. Dasselbe gilt fuer den bekehrenden Rabiner. Es ist, logisch gesehen, ein endloser Kreis.

Der absolute Begriff "Jude" ist also leer und kann nur willkuerliche Bedeutung bekommen. Am besten hat es Heidrich verstanden, als er sagte: "Wer Jude ist, entscheide ich".

Falls wir in der Zukunft Auschwitz vermeiden wollen, muessen wir die Situationen ausschliessen, in denen ein Mensch ueber den anderen willkuerliche Aussagen machen kann. In anderen Worten muessen wir die Relativitaet auf den menschlichen Bereich erweitern und duerfen kuenftig nur relative, beweisbare Aussagen in diesem Bereich zulassen. Dies zieht natuerlich fast alle etablierten ideologischen und politischen Strukturen in Frage, die auf absoluten Prinzipien beruhen.

Wir leben in einer Auschwitz-freundlichen Welt und, falls wir Auschwitz vermeiden wollen, muessen wir ihre Grundprinzipien in Frage ziehen. Aber wollen wir das in Wirklichkeit?